Der FDP fehlt: Demut

Die heutige FDP verwaltet, statt zu gestalten. Will sie wieder Erfolg haben, sollte sie aufhören, die Signale ihrer schrumpfenden Wählerschaft zu ignorieren.

Die FDP Schweiz war einst eine «Gründerin»; eine politische Organisation mit enormer unternehmerischer und politischer Kraft, und sie hatte, wie sich das für Gründer gehört, auch eine Idee. Sie hatte eine Vorstellung von einem modernen, liberalen und föderalistischen Staat, in dem Freiheit, Demokratie und Eigenverantwortung sowie das Miliz- und Subsidiaritätsprinzip das staatspolitische Programm bestimmen sollten.

Ein Land als quasi selbstverwaltete Genossenschaft also. Was man ohne Staat regeln konnte, wurde ohne Staat geregelt. Unermüdlich setzten sich die führenden Köpfe dieser Zeit für dieses liberale Modell ein. Der Unternehmer war nicht nur Fabrikant, sondern auch Patron, Offizier, Ständerat, Wohnungsbauer, Kultur- und Bildungsförderer, Vereinsmitglied. Mit viel Fleiss und Engagement schufen diese Leute das Fundament für unseren heutigen Wohlstand. Viele von ihnen – allerdings nicht alle – waren freisinnig.

Heute ist die FDP keine Wohlstandserschafferin mehr, sondern eine Wohlstandsverwalterin. Sie ist nicht die einzige Partei, auf die das zutrifft. Aber bei der FDP ist dieser Wandel besonders schmerzhaft. Die einstige «Gründerin» ist heute eine Getriebene. Statt eigene Ideen zu entwickeln und selbstbewusst zu vertreten, arrangiert sie sich mal mit rechts, mal mit links und vergeudet so ihre Zeit mit «unfreisinnigen» Themen wie Vaterschaftsurlaub oder Kita-Subventionen. Die freisinnige Antwort auf diese beiden Themen wäre übrigens: Das ist Sache der Sozialpartner, nicht des Staates, schon gar nicht des Bundes.

Die FDP ignoriert die Signale ihrer schrumpfenden Wählerschaft seit Jahrzehnten mit erstaunlicher Nonchalance. Das könnte man als Hochmut auslegen. Und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Was die FDP jetzt braucht, wenn sie überleben will, ist Demut, um aus der Talfahrt ehrliche Lehren zu ziehen – und Mut, um frische Ideen im Sinne des liberalen Erbes zu entwickeln.

Zum Niedergang freisinnigen Denkens haben neben der FDP auch Wirtschaftsverbände beigetragen, die sich vom politischen Tagesgeschäft verabschiedet und vom Volk entfremdet haben und nur noch ihre Eigeninteressen bewirtschaften. Wir und insbesondere der Freisinn brauchen ihn wieder: den Typus des sympathischen, volkstümlichen Wirtschaftsführers von ehedem, der sich neben dem Geschäft auch redlich um Gemeinwohl und Gemeinsinn kümmert.

Claudia Wirz ist freie Journalistin und Buchautorin.

Dieser Text erschien zuerst im Schweizer Monat im Rahmen der «FDP-Debatte». schweizermonat.ch

Gleichstellungsbüros adieu!

Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau ist erreicht. Die Gleichstellungsbeauftragten müssen trotzdem nicht um ihre Arbeitsplätze bangen. Denn nach der rechtlichen steht jetzt die «tatsächliche» Gleichstellung auf dem Programm und das gibt Arbeitsplatzgarantie bis zu Sankt Nimmerlein.

All die staatlichen Gleichstellungsbeauftragten arbeiten in ihren Büros seit vielen Jahren fleissig an der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Aber was, wenn die Gleichberechtigung vollendet ist? Werden sie dann arbeitslos? Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Denn es gibt seit 2021 einen offiziellen Bericht, der beweist, dass Frauen und Männer in der Schweiz juristisch gleichbehandelt werden.

Oder anders gesagt: Ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen von Männern und Frauen sind ausgeräumt. Und wo sie doch noch vorkommen, gehen sie keineswegs nur zu Lasten der angeblich stets diskriminierten Frauen, im Gegenteil. Man denke etwa an die Militärdienstpflicht mitsamt der Wehrpflichtersatzabgabe.

Kurzum: Männer und Frauen sind von wenigen Ausnahmen abgesehen in der Schweiz gleichgestellt. Von einer systematischen Benachteiligung der Frauen kann schon gar keine Rede sein.

Das offenbart sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Lebenswirklichkeit. Frauen machen heute zum Beispiel häufiger die Matura als Männer. Und über fehlende weibliche Vorbilder – früher ein gerne bemühter Topos der Gleichstellungslobby – kann heute niemand mehr klagen. Vielmehr werden wir heute überall mit glorifizierter «Frauenpower» torpediert.

Fernsehkrimis sind ohne «starke» Kommissarinnen nicht mehr denkbar, Nachrichtensendungen achten peinlich genau auf die Einhaltung von Frauenquoten bei den Auskunftspersonen, an Radio und Fernsehen wird «gegendert», was das Zeug hält, und in der Welt des Business sind Geschichten über «Powerfrauen» mittlerweile zu einem eigenen Genre geworden.

Die Mission Gleichstellung ist also erfüllt, nein, übererfüllt. Wäre man tatsächlich liberal, wäre es nun höchste Zeit, die erwachsene und gleichgestellte Frau endlich von der staatlichen Übermutter zu entwöhnen. Lasst uns die Gleichstellungsbüros schliessen!

Doch der Staat lässt seine stattliche Schar von Gleichstellungsbeauftragten nicht im Stich. Jetzt wird die «tatsächliche» Gleichstellung gefördert. Gemeint ist damit nichts anderes als die Hebung des Frauenanteils in den Teppichetagen. Die Gleisbaustelle, auf der nachts bei Wind und Wetter und bei eisiger Kälte gearbeitet wird, steht nicht im Fokus dieser Strategie, obwohl dort die Männer stärker dominieren als in der klimatisierten Chefetage.

Heute geht es bei der Gleichstellungspolitik nur noch um zwei Dinge: um die Erschleichung von Privilegien für einige wenige Frauen, die später als gefeierte «Powerfrauen» auf dem Chefsessel sitzen, und um Arbeitsbeschaffung für die Gleichstellungsbüros. Deshalb darf aus der Sicht der Gleichstellungslobby Gleichstellung nie erreicht sein, trotz der jahrzehntelangen steuerfinanzierten Knochenarbeit der Gleichstellungsbeauftragten.

Diese Agrarpolitik schadet!

Die Schweizer Landwirtschaft ist vielfältig, aber leider am falschen Ort. Denn die Vielfalt wuchert vor allem bei den Subventionen, nicht auf dem Feld. In der Landwirtschaftspolitik geht es im Grunde immer nur um die gleichen zwei Dinge: um Geld und Privilegien für wenige auf Kosten aller anderen.

Die Agrarlobby ist mächtig in der Schweiz. Sie umfasst beileibe nicht nur die Bauernorganisationen, sondern auch die vor- und nachgelagerten Industrien und Dienstleistungen. Merke: Agrarsubventionen sind Industriesubventionen.

Seit Jahrzehnten gelingt es dieser politisch bestens vernetzten Gruppe, ihre agrarpolitischen Interessen auf Kosten der Bevölkerung und der Umwelt durchzusetzen. Es sind vor allem vermeintlich bürgerliche und selbsternannte "liberale" Kräfte sowie die Kantone, die im Parlament die knallharte Klientelpolitik zulasten der Konsumenten, der Steuerzahler, der Wirtschaft insgesamt, vor allem aber auf Kosten der Natur vorantreiben.

Obwohl uns diese Agrarpolitik in vielfacher Hinsicht massiv schadet, herrscht breites Schweigen, auch in den Medien. Wären da nicht die liberale Denkfabrik Avenir-Suisse und das Institut für Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern – es würde fast niemand den agrarpolitischen Gottesdienst im Lande stören. Dieser Blog wird sich fortan dem Reigen der wenigen Kritiker anschliessen und regelmässig zu diesem Thema «posten».

Avenir-Suisse hat ausgerechnet, was uns unsere Agrarpolitik kostet. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Schweizer Agrarpolitik betragen demnach (Stand: 2020) 20.7 Mrd. Fr. pro Jahr. Im Vergleich zur Vorstudie von 2018 sind die Kosten nochmal um 4% gestiegen. Seither dürfte sich wenig und schon gar nichts zum Besseren geändert haben, da sich auch die Agrarpolitik nicht geändert hat. Für die Agrarlobby läuft der Karren also – man ist versucht zu sagen – wie geschmiert.

Wer trägt diese Kosten genau? Es sind wir alle. Avenir-Suisse teilt sie folgendermassen auf:

• 23% Prozent tragen die Steuerzahler;

• 18% bezahlen die Konsumenten;

• 37% machen die Umweltkosten aus;

• 22% tragen die Unternehmen in Form verpasster Opportunitäten des Exports.

Der letzte Kostenposten hat mit dem «Zollhammer» der USA traurige neue Aktualität erhalten. Im Jahr 2006 hatte die Schweiz gute Aussichten auf ein Freihandelsabkommen mit den USA. Aber Schutz und Privilegien der Agrarbranche waren der Politik letztlich wichtiger. Was für ein Fehler! Und niemand redet darüber.

Verantwortlich für das Kostenwachstum von 700 Mio. Fr. pro Jahr zwischen 2018 und 2020 sind übrigens die gestiegenen Umweltkosten: Pestizideinsatz, gestiegener Phosphorüberschuss und Biodiversitätsverluste summieren sich allein auf zusätzliche 300 Mio. Fr. jährlich. Vereinzelt wird mit den Agrarsubventionen umweltschädliches Verhalten sogar aktiv gefördert (z.B. reduzierter Mehrwertsteuersatz auf Pflanzenschutzmitteln).

Was braucht es noch, damit die Agrarwende endlich kommt?

News: Mein neues Buch

Es gibt News: Heute, am 17.9.2025 erscheint mein neues Buch im Rahmen einer Vernissage im Landesmuseum: "Risiko, Solidarität und Mathematik - Die Schweizer Versicherungswirtschaft und ihre Geschichte". Wer sich für die Geschichte der Schweizer Versicherungswirtschaft interessiert und wissen will, was unser Wohlstand mit der Versicherungsidee zu tun hat, kommt an diesem Band kaum vorbei.

Die Zusammenarbeit mit dem hochkarätigen Autorenteam war eine Freude. Mein herzlicher Dank geht an Reiner Eichenberger, Katharina Fontana, Beat Gygi, Urs Hafner, Melanie Häner-Müller, Alexandra Janssen, Beat Kappeler, Fabian Kuhn, Daniel Künstle, Martin Lengwiler, Michele Salvi, Markus Somm, Tobias Straumann und Thomas Zaugg.

Mein Dank geht ebenso an Clemens Fässler und Susanna Ruf vom Verein für wirtschaftshistorische Studien (Verlag) für ihre professionelle Unterstützung und an den Schweizerischen Versicherungsverband SVV, ohne den dieses Projekt nicht zustande gekommen wäre. ISBN: 978-3-909059-89-8

Was ist Bildung?

Was ist ein gebildeter Mensch? Ist es einer, der beim Pisa-Test gut abgeschnitten hat? Einer, der an der Universität akademische Titel erarbeitet hat und auf höchstem Niveau gendern kann? Ist es einer, der stets effizient lernt und sich nicht von unnützem Wissen ablenken lässt? Ist es einer, der das «lebenslange Lernen» praktiziert und viel Geld für Weiterbildungsprogramme ausgibt?

Oder ist es der Praktiker, der die Berufs- und Lebenserfahrung zum Lehrmeister hat, der sich weitgehend jenseits von Diplomen selber weiterbildet und dessen Triebfedern Neugier und Wissensdrang sind? Schliesslich ist das Leben an sich ein einziger Lernprozess, auch wenn es dafür kein anerkanntes Zertifikat gibt. Und was unterscheidet den gebildeten Menschen eigentlich vom hochqualifizierten? Kann es heute, da sich Wissen laufend vermehrt, überhaupt noch Gebildete geben, oder kennt die Wissensgesellschaft nur Hochqualifizierte?

Eines ist klar: So viele Hochqualifizierte wie heute gab es noch nie. In der Schweiz haben 50 Prozent der unter 35-Jährigen eine Tertiärausbildung und gelten damit als hochqualifiziert – die meisten von ihnen sind Hochschulabsolventen. Bei den über 65-Jährigen trifft Letzteres nur auf 12,5 Prozent zu (Stand: 2017).

Doch damit ist die Eingangsfrage nicht hinreichend geklärt; zu schillernd ist der Bildungsbegriff. Mal steht er für praktisches Können, mal für Weltklugheit, mal für Belesenheit in den Klassikern, mal für freie Forschung, mal für digitale oder andere fachspezifische Fähigkeiten. Es ist noch nicht so lange her, da war das Latein in der abendländischen Kultur so etwas wie eine Visitenkarte des Gebildetseins. Doch Latein ist tot. Englisch lebt dafür umso mehr und so gibt heute das kaufmännische Prinzip der Employability bei der Bildung den Ton an. Das heisst: Bildung ist, was der Arbeitsmarkt braucht. Der Rest ist Ballast und kann abgeworfen oder ausgelagert werden.

Durch diese Lesart ist Bildung zu einer Art Industrieware geworden, und die Hochschulabsolventen gehören kraft ihres tertiären Ausbildungsweges automatisch zu den Hochqualifizierten – unabhängig von Fach, Können, Leistung, Erfahrung und Wissen.

Das Prädikat hochqualifiziert ist bei genauer Betrachtung jedoch rein technischer Natur. Weil der Mensch in Mustern denkt, erleichtern ihm solche Taxierungen die Dinge zu sortieren und Statistiken zu erstellen. Über die Bildung einer Person im weiteren Sinne sagt der Begriff aber nicht viel aus. Denn Bildung – zumindest jene im Humboldt’schen Sinn – ist weit mehr als abgeprüftes, genormtes und zweckdienliches Wissen.

Bildung im Sinne der Humboldts hat nicht den geschmeidigen Mitarbeiter zum Ziel, sondern das mündige, selberdenkende und selbstbestimmte Individuum, das in der Lage ist, die Dinge und auch sich selber kritisch zu hinterfragen und eine eigenständige Meinung zu bilden. In einer Zeit, da Hochschulen zunehmend zu ideologischen Hochburgen werden und die künstliche Intelligenz ihr menschliches Pendant herausfordert, wäre es nicht das Dümmste, sich wieder verstärkt daran zu orientieren.

Trügerisches Kalorienzählen

Es ist paradox: Je mehr Nahrungsmittelkalorien die Schweiz selber produziert, desto abhängiger wird sie vom Ausland. Der Selbstversorgungsgrad ist ein Trugbild mit politischer Agenda.

Der Schweizer Bauernstand geniesst landläufig ein ausgezeichnetes Ansehen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Urne. Bei Volksabstimmungen darf sich der Bauernverband oft freuen, etwa bei den Pestizid-Initiativen oder bei der Massentierhaltungsinitiative. Und über Klimaaktivisten, die sich an Stalltüren festkleben, hat man auch noch nicht viel gelesen.

Dabei entspricht die Schweizer Landwirtschaft schon lange nicht mehr dem Heidi-Idyll, das uns so sehr ans Herz gewachsen ist. Einen Hauch ökologischer ist die Agrarpolitik jüngst zwar geworden. Doch wegen der vielen Subventionen im System arbeitet die Schweizer Landwirtschaft grundsätzlich kapital-, energie- und maschinenintensiv. Das hat Folgen. Jenseits der Diskussionen um Pestizide und Massentierhaltung hat etwa der Einsatz schwerer Maschinen zu einer verbreiteten Bodenverdichtung geführt. Es sei anzunehmen, schreibt der Bundesrat in einer Antwort auf einen Vorstoss aus dem Parlament, dass die Verdichtung landwirtschaftlich genutzter Böden zunehmend zum Problem werde. Diese Annahme ist plausibel, denn die Maschinen werden tendenziell immer schwerer, zumal die Subventionen zuverlässig fliessen.

Zur Umweltbilanz der Schweizer Landwirtschaft gäbe es Bände zu schreiben, denn diese Rechnung hat ungezählte und für die Bevölkerung, die die Landwirtschaft mit ihren Steuern finanziert, nur schwer durchschaubare Variablen. Ob die Bevölkerung weiss, was genau es etwa mit «Nährstoffverlusten» auf sich hat, darf bezweifelt werden. Immerhin lässt sich zusammenfassend und etwas simplifiziert sagen, dass die Schweizer Landwirtschaft bis heute kein einziges der 13 Umweltziele erreicht hat, welche ihr der Bund im Jahr 2008 – notabene auf der Grundlage geltenden Rechts – gesteckt hatte. Erreicht wurden lediglich einige Teilziele.

Eine intensive Landwirtschaft wie die schweizerische ist überdies stark von importierten Vorleistungen abhängig. Der Begriff «Selbstversorgungsgrad» ist vor diesem Hintergrund eine Hohlformel, die vorab protektionistischen Zwecken und der offenkundig sehr erfolgreichen Selbstvermarktung der Agrarbranche dient. In vielen Bereichen hängt die Schweizer Landwirtschaft am Import-Tropf: bei Energie, Maschinen und Kraftfutter ebenso wie bei Saatgut, Tierarzneien, Geräten, Pflanzenschutzmitteln oder Küken. Intensiviert die Schweiz diese Art von Landwirtschaft, wachsen damit automatisch auch die Abhängigkeit von Hilfsmittelimporten und vor allem der Druck auf die ohnehin schon strapazierten einheimischen Ressourcen.

Wer Versorgungssicherheit anstrebt, setzt deshalb nicht auf planwirtschaftliche Selbstversorgungsziele, die primär dazu dienen, die einheimische Landwirtschaft zu schützen und die obendrein ökologisch fragwürdig sind. Wer Versorgungssicherheit will, setzt auf solide Aussenhandelsbeziehungen. Nichts spricht dagegen, dass internationale Arbeitsteilung nicht auch in der Lebensmittelproduktion sinnvoll und effizient ist, auch im ökologischen Sinne. Das sollten insbesondere jene Politiker wissen, die sich selber gerne liberal heissen.

Betreutes Leben

In der Schweiz können 800 000 Erwachsene nicht gut schreiben und haben Mühe, einen Text zu verstehen. Das sagt die nicht mehr ganz taufrische offizielle Statistik. Dazu kommen 400 000 weitere Erwachsene, die mit der «Alltagsmathematik» überfordert sind.

Betroffen sind Personen unterschiedlichster Art, wie die Autorinnen einer neuen, im Auftrag der Bildungsbehörden erstellten Studie in der Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» versichern, nämlich "Kaderleute genauso wie Migrantinnen und Arbeitnehmenden mit und ohne Lehrabschluss", um es im Jargon der zuverlässig gendersensiblen Sozialbranche zu formulieren.

Wie kann es sein, dass es einem wohlgenährten Bildungssystem nicht gelingt, allen Schulpflichtigen das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, fragt man sich da. Im Jahr 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden – also die Steuerzahler – mehr als 40 Milliarden Franken in die Bildung, soviel wie nie zuvor. Betrachtet man die Ausgaben nach Bildungsstufe, so wurde der mit Abstand grösste Teil für die obligatorische Schule verwendet.

Unerfreulich ist diese Situation insbesondere für die Arbeitgeber. Sie sind in einer zunehmend anspruchsvollen und globalisierten Arbeitswelt auf Leute angewiesen, die zu Beginn ihres Berufslebens zumindest das beherrschen, was ihnen die obligatorische Schule eigentlich beibringen sollte. Ähnliches lässt sich über die höheren Bildungsinstitute sagen; lesen, schreiben und rechnen zu lehren ist nicht ihre Aufgabe.

Für die Akteure des Sozialstaats hat der Befund hingegen einen anderen Klang. Er ruft nach Arbeit, viel Arbeit. Denn der Wohlfahrtsstaat will uns nicht nur sozial absichern, er will uns auch lebenslang fördern, auf dass wir unsere Defizite überwinden. Und wo gefördert wird, fliessen Fördergelder, auch im konkreten Beispiel: 43 Millionen Franken stellt der Bund im Zeitraum 2021-2024 für den Kampf gegen die Lese- und Rechenschwäche der Erwachsenen bereit, ein Betrag, den die Kantone mindestens verdoppeln.

Doch kann man ein gesellschaftliches Malaise beheben, indem man es mit immer mehr Steuermillionen und paternalistischen Massnahmen einfach zuschüttet? Die Frage stellt sich jedem, der den Glauben an das Individuum und das Prinzip der Subsidiarität noch nicht aufgegeben hat. Die eigenen Fähigkeiten zu pflegen und zu mehren, ist primär die Aufgabe jedes einzelnen Erwachsenen. Ist jemand damit überfordert, gibt es private und zivilgesellschaftliche Akteure, die weiterhelfen, zumal in einem Land, das – zumindest fürs Protokoll – reichlich stolz ist auf sein Milizsystem. Es braucht nicht für jedes Problem eine staatlich bestellte Betreuung durch hochqualifizierte Experten.

Vor allem aber lässt sich Bildungserfolg nicht einfach herbeifördern. Um ein Ziel zu erreichen, braucht es Leistungswillen, inneren Antrieb und die Zuversicht, dass sich der Aufwand lohnt. Doch gerade diese bürgerlichen Tugenden werden durch den betreuenden Wohlfahrtsstaat systematisch geschwächt. Und so stellt sich die Frage, wem die Fördergelder am meisten nützen: den Betreuten oder den Betreuern.