Von Siena nach Bern

Wer schon einmal in Siena war, kennt ihn vielleicht: den Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti in den Räumen des Palazzo Pubblico über Wesen und Wirkung der guten und der schlechten Regierung. Der faszinierende spätgotische Bilderzyklus entstand in den politisch turbulenten Zeiten zwischen 1337 und 1339 und hatte vor allem ein Ziel: Er sollte die Mächtigen, die in diesen Räumen tagten und Entscheide fällten, mit der positiven Seite zu guter Regierungsführung inspirieren und ihnen mit der negativen Seite die Folgen politischen Versagens vor Augen halten.

Die Fresken waren nicht etwa von einer Moralinstanz wie der Kirche in Auftrag gegeben worden, sondern von den Regierenden – der sogenannten Regierung der Neun – selber. Offenbar waren damals die Herren von Siena selbstkritisch genug, um zu wissen, dass die Versuchungen der Macht auch an ihnen nicht spurlos vorbeigehen und somit schlechte Regierungsentscheide folgen könnten. So komplex und farbenfroh der in der Morgenröte der toskanischen Renaissance entstandene Bilderzyklus auch ist – seine Botschaft ist einfach: Von guter Regierung profitieren alle. Bei schlechter Regierung gehen alle zugrunde.

Fast 700 Jahre alt sind die Sieneser Fresken über die Wirkung der guten und der schlechten Regierung, aber ihre Aussage ist immer noch brandaktuell. Wer nach dem jüngsten Krawalltag nach Bern blickt, wähnt sich auf der dunklen Seite von Lorenzettis Freskenzyklus, also dort, wo die Folgen der schlechten Regierung allegorisch dargestellt werden: Die Strassen sind leer und verwüstet, Häuser sind zerstört, Fassaden bröckeln, Ladengeschäfte gibt es keine mehr, nur der Waffenschmid arbeitet fleissig. Justizia liegt gefesselt am Boden und wird von düsteren Gesellen geplagt, die Zwietracht, Grausamkeit, Betrug, Zorn, Habsucht, Prahlerei und Tyrannei symbolisieren. Sie gelten als die führenden Feinde der guten Regierung. Wüssten wir es nicht besser, man könnte meinen, Lorenzetti habe «die Schande von Bern» verarbeitet.

Fast wäre man versucht, all jene nach Siena zu schicken, die sich nun zu Fürsprechern des gewalttätigen Mobs erheben und dessen zerstörerische Gewalt relativieren. Dort könnten sie die Botschaft von Lorenzettis Fresken intensiv studieren. Aber vielleicht ist es besser, wenn sie zuhause bleiben. Die Sorge um dieses wunderbare Kunstwerk ist einfach zu gross.

Quod non fecerunt barbari… .