Gewiss: Man kann ja sagen zum Vertragspaket zwischen der Schweiz und der EU, wie dies die meisten Parteien und Wirtschaftsverbände und die Mehrheit des Bundesrates tun. Wer aber ja sagt zu den Verträgen mit der EU, sagt auch tschüss zu einer Schweiz, in der Volk und Stände der Souverän sind. Denn das einzigartige halbdirektdemokratische und föderalistische System der Schweiz, welches wesentlich für unseren Wohlstand verantwortlich ist, verkäme mit diesen Verträgen weitgehend zur Folklore.
Der unberechenbare und gelegentlich – aus der Sicht der Eliten – widerborstige Souverän würde über weite Strecken entweder entmachtet, oder sein demokratischer Wille würde im Streitfall von Richtern relativiert oder überstimmt, wie es bereits heute im Bereich der Menschenrechtsauslegung der Fall ist; man denke an das Urteil zugunsten der Klimaseniorinnen; es gäbe noch viele weitere Beispiele.
Egal, auf welcher Seite man steht: Das Ja oder Nein zum Vertragswerk mit der EU ist für die Schweiz und ihre Bevölkerung eine Schicksalsfrage. Fokussiert man auf das Politische - und nur das soll hier Thema sein -, geht es um viel mehr als nur darum, ob wir auch künftig noch zu Sachfragen oder Verfassungsbestimmungen abstimmen dürfen. Es geht um das Staatsverständnis schlechthin, also um die Frage: Wer ist überhaupt der Staat? Und ist das Volk der Chef oder sind es die Behörden? Haben die Behörden dem Volk zu dienen oder ist es gerade umgekehrt? Es geht um die politische Identität der genossenschaftlich organisierten, föderalistischen Schweiz inmitten eines Konglomerats von Staaten, die in ihrem Staatsverständnis noch immer durch ihr monarchisches Erbe und den zentralistischen Paternalismus des 19. Jahrhunderts geprägt sind.
Die direktdemokratischen Instrumente der Schweiz haben neben ihrer technischen auch eine zivilisatorische Funktion. Eine schweizerische Volksabstimmung ist eben nicht nur einfach ein «Plebiszit», wie es ausländische Journalisten, die das Schweizer System nicht verstehen, gerne taxieren. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses und eines über viele Jahrzehnte gewachsenen und gepflegten Wunsches der Bevölkerung, sich möglichst weitgehend selber zu regieren und zwar systematisch, nicht nur punktuell oder ausnahmsweise.
Diese Art der direkten Mitbestimmung zwingt die politischen Akteure im gesamten politischen Prozess dazu, stets den besten Kompromiss zu suchen – vergleichbar mit der permanenten Suche nach der besten Idee im freien Wettbewerb. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur einzelne Entscheide, sondern die gesamte politische Kultur in der Schweiz. Diese «Vernehmlassungsdemokratie» ist ein ausbalanciertes System, welches politische Entscheide der Vernunft und der Schwarmintelligenz der Bevölkerung anvertraut und nicht dem Gutdünken von Behörden, die aus ihren schicken Büropalästen heraus und an prunkvollen Konferenzen über die Köpfe ihrer Bevölkerung hinweg die Gesellschaft gestalten wollen. Die direkte Demokratie schweizerischer Prägung ist im Grunde nichts anderes als eine weitere Massnahme zur Gewaltentrennung und Machtteilung. Sie sorgt schon präventiv dafür, dass niemand in diesem Land auf verstiegene Ideen kommt; und wer es – wie die Juso mit ihren Erbschaftssteuerfantasien – doch tut, wird kaltgestellt.
Dass die Schweiz wohlhabend wurde, hat sehr viel mit ihren politischen Institutionen zu tun. Die politischen Eliten waren und sind in der Schweiz gezwungen, dem Volk kluge, sprich mehrheitsfähige Ideen zu unterbreiten. Legt man dieses zivilisierende Zaumzeug für die politischen Eliten auch nur teilweise ab, könnte das passieren, wovor Friedrich A. von Hayek schon in den 1940er Jahren in seinem berühmten Buch «Der Weg zur Knechtschaft» gewarnt hat: ein leiser, aber stetiger, durch immer mehr Steuern, Zwangsabgaben, Schulden, Regulierungen und Bürokratie beförderter Abstieg in die Unfreiheit.
